Potenzialentwicklung Teil 3: Begabung oder Neigung?
Was würden Sie wählen, wenn Sie zwischen dem, was Sie gut können, und dem, was Sie wirklich lieben, entscheiden müssten? Wir erkunden dieses Dilemma und beleuchten verschiedene Perspektiven. Es erwartet Sie eine Folge voller überraschender Einsichten und praktischer Ratschläge, die Ihre Sichtweise verändern könnte.
Erfahren Sie in dieser Folge:
- Warum Begabungen und Neigungen nicht immer Hand in Hand gehen und wie Sie diese scheinbare Diskrepanz zu Ihrem Vorteil nutzen können.
- Was der Begriff „Life Purpose“ bedeutet und wie er als Kompass für Ihr Leben dienen kann.
Sie haben Fragen und Anregungen?
Dann schreiben Sie mir gerne eine Nachricht an: thomas.kapp@allscout.de
Oder wenn Sie lieber lesen möchten, geht es hier weiter mit dem Text zum Podcast.
Wie immer beginnen wir mit einer Geschichte:
Der Apple-Gründer Steve Jobs sagte einst zu den Absolventen der Stanford-Universität auf der Abschlussfeier: „Ihr müsst die eine Sache finden, die ihr liebt, falls ihr diese Arbeit noch nicht gefunden habt, sucht weiter.“
Was bedeutet das nun für unsere Startrampe Erfolg?
Wir haben in den letzten Folgen gesehen, dass zwei Fragen im Vordergrund beim Entdeckungsprozess unseres Potenzials stehen:
„Was kann ich entwickeln, weil ich es gut kann?“ Hier geht es um unsere vorhandenen Begabungen.
„Was kann ich entwickeln, weil ich es liebe?“ Hier geht es um unsere Neigungen.
Während unsere Begabungen den derzeitigen physischen, mentalen, emotionalen und seelischen Zustand eines Menschen beschreiben, definieren unsere Neigungen unsere energetischen Antriebskräfte. Bei diesen beiden Aspekten müssen wir uns mit einem ewigen Streit befassen: Eignung oder Neigung? Talent oder Spaß? Begabung oder Interesse? Begabungen können sich mit Neigungen eines Menschen decken (was natürlich am besten ist) − oder völlig unabhängig davon sein. Nach einer Studie sollen bei 30 bis 40 Prozent der Menschen Begabungen und Neigungen nicht übereinstimmen. Wem soll man dann folgen? Diese Frage ist nicht immer einfach zu beantworten.
Wie bei vielen Themen gibt es unterschiedliche Meinungen.
Die eine Perspektive lautet: „Wir sollten machen, was wir mögen.“ Reinhold Messner sagt: „Der Mensch kann alles schaffen, was er will. Aber ein normaler Mensch will nur, was er kann.“ Danach muss ein Talent über eine künftige Ausrichtung und Entwicklung noch nicht sehr viel aussagen. Wer in der Schule gut in Mathematik ist, muss nicht zwangsläufig ein Mathematikgenie werden. Wessen Ideal es ist, die Welt zu verbessern und als Umweltschützer einen Beitrag für die Sauberkeit der Meere zu leisten, sollte vielleicht eher diesem Antrieb nachgehen. Vielleicht kann er dann auf einem Greenpeace-Schiff auch seine mathematischen Kenntnisse einbringen. Eines ist jedoch klar: Als Mathematikprofessor in einem verstaubten Elfenbeinturm wird dieser Mensch meist nicht seine Erfüllung finden. Leidenschaft ist wichtig, um nicht mit 40 Jahren plötzlich am beruflichen Scheideweg zu stehen: Boreout oder Burnout?
Umgekehrt ist auch eine Schwäche noch kein unüberwindbares Hindernis für eine erfolgreiche Potenzialentwicklung. Nehmen wir das Beispiel von Demosthenes. Er war einer der bedeutendsten griechischen Redner und Staatsmänner im 4. Jahrhundert v. Chr. Demosthenes hatte als junger Mensch einem Prozess beigewohnt, in dem er den Redner um seine Redekunst derart beneidete und bewunderte, dass er beschloss, selbst Redner zu werden. Leider hatte er eine für einen Redner fatale Schwäche: Er stotterte und hatte auch sonst eine eher schwache Stimme. Es kam, wie es kommen musste: Seine erste öffentliche Rede endete in einem Fiasko. Demosthenes betrachtete Spott und Kritik jedoch als Herausforderung. Daher entschied er sich, gegen seine eigenen Einschränkungen zu kämpfen und seine Schwächen auszuradieren. Nach jahrelangem Training (u.a. mit einem Stein im Mund) gelang es Demosthenes, normal zu sprechen und das zu werden, wonach er sich sehnte: Der beste Redner seiner Zeit zu sein. Demosthenes war seiner Neigung gefolgt!
Die andere Perspektive lautet dagegen: „Wir sollten machen, was wir können.“ Fredmund Malik sagt fast provokativ: „Es gibt nicht die geringste Korrelation zwischen gern tun und gut tun.“ Wenn ich etwas kann, werde also das Interesse und die Freude an meiner Tätigkeit folgen, etwa nach dem Motto: „Der Appetit kommt mit dem Essen“. Die eigenen Fähigkeiten können somit zur Grundlage großer Freude an der eigenen Virtuosität werden.
Wir können diesen Streit hier nicht entscheiden, letztlich muss jeder die Verantwortung für seine Entscheidung selbst tragen. Vielleicht helfen einige Guidelines bei dieser Entscheidung weiter:
- Zuerst sollten wir immer versuchen, Begabungen und Neigungen zu einer möglichst großen Deckung zu bringen.
- Beim begabten Menschen kann sich noch eine Neigung entwickeln, beim Menschen mit einer Neigung aber eher selten eine Begabung. Wer jedoch eine bestimmte Neigung besitzt, kann noch neue, bisher unentdeckte Begabungen entdecken und entwickeln: Wer sich also für Rockmusik begeistert und Drummer werden möchte (aber völlig unbegabt ist), wird vielleicht noch ein guter Gitarrist.
- Am Anfang sollte immer eine Negativ-Auslese gemacht werden: Wir sollten keine Dinge machen, die uns überhaupt nicht interessieren, genauso wie wir keine Dinge machen sollten, für die wir überhaupt keine Begabung haben. Man kann das in den Casting-Shows im Fernsehen sehr gut nachverfolgen, wenn völlig unbegabte Jugendliche Popstar oder Modell werden wollen.
- Wer sich seiner Begabung oder Neigung sicher ist, aber an seiner entsprechenden Neigung bzw. Begabung zweifelt, sollte eher mit dem beginnen, dessen er sich sicher ist.
- Wer weder Begabungen noch Neigungen an sich selbst erkennen kann, sollte dem Rat von Ken Robinson und Tina Seelig folgen: Einfach einige Dinge praktisch ausprobieren und Erfahrungen sammeln! Nichts tun und tatenlos abwarten, ist die schlechteste Option.
- Wer hohe Erwartungen an seine Karriere („Erfolg in einem Wettbewerbsumfeld“) hat, für den ist es wahrscheinlich wichtiger, seiner Begabung zu folgen. Ob man damit glücklich wird, ist eine andere Frage.
- Bei allen Überlegungen sollten wir nicht vergessen: Spitzenleistung erfordert immer auch Training. Training macht aus Begabung Können und Meisterschaft. Ein mäßig Begabter mit diszipliniertem Training wird im Zweifel weiterkommen als ein Begabter, der nicht trainiert. Möglicherweise gelingt das harte Training aber nur, wenn eine ausreichende Neigung besteht. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz! Egal, ob Begabung oder Neigung – Training ist unverzichtbar für unseren Erfolg. Wer mit Training ein Problem hat, für den ist die Frage „Begabung oder Neigung“ möglicherweise nicht die prioritäre Frage! Am besten ist es also, wenn alle drei sich die Hand reichen!
Nun wollen wir unseren Rohdiamanten aus Begabungen und Neigungen weiter schleifen, und zwar zum „Life Purpose“. Diesen Begriff stelle ich hier neu vor: Für Life Purpose werden als deutsche Synonyme „Lebenszweck“, „Lebenssinn“ oder „Existenzberechtigung“ benutzt. Für mich haben diese deutschsprachigen Alternativen allerdings nicht die gleiche positive sprachliche Kraft wie „Life Purpose“, sodass ich diesen Begriff im Folgenden verwende.
Der Life Purpose leitet sich aus unserem Potenzial, also unseren Begabungen, Neigungen (und damit insbesondere unseren inneren Treibern und Lebensmotiven), ab und transformiert es zu einer fundamentalen energiegeladenen und sinnstiftenden Aussage. Er konkretisiert unser Potenzial auf die Frage: „Wofür stehe ich?“ Der Life Purpose ist unser „heiliger Gral“ und damit eine Richtschnur für unser ganzes Leben. Lassen wir uns von Eckart Tolle inspirieren:
„Spielt es eine Rolle, ob wir unseren äußeren Zweck erreichen, ob wir in der Welt Erfolg haben oder versagen? Es wird Ihnen wichtig sein, solange Sie Ihre innere Bestimmung nicht erkannt haben. Danach ist der äußere Zweck nur noch ein Spiel, das Sie weiterspielen können, einfach weil es Ihnen Spaß macht. Es ist auch möglich, in Ihrer äußeren Bestimmung völlig zu versagen und gleichzeitig in Ihrer inneren Bestimmung vollkommen erfolgreich zu sein.
Verdeutlichen wir den Life Purpose an ein paar Beispielen. Nehmen wir an, dass drei Menschen auf Basis ihres inneren Treibers „Gerechtigkeit“ ihren Life Purpose wie folgt jeweils individuell gefasst haben:
Hans: „Ich bin der Motor für leistungsgerechten Wohlstand für alle.“
Julia: „Ich bin die Hüterin von Gerechtigkeit, Ordnung und Sicherheit.“
Taylor: „Ich bin der Sonnenschein der Armen und Benachteiligten.“
Unser Life Purpose beschreibt etwas, was einen bleibenden, bedeutsamen und nicht in Geld berechenbaren Wert hat. Wenn uns das nicht gelingt, ist unser Leben letztlich „wertlos“ oder „bedeutungslos“. Unser Life Purpose ist der Maßstab für die Qualität unseres Lebens. Im Kern geht es darum, dass wir nicht nur Neigungen haben, sondern – wenn wir ehrlich zu uns sind − auch etwas zu dieser Welt beitragen wollen. Das muss kein großer Beitrag sein, aber eben ein Beitrag. Auch ein einziges Sandkorn am Strand leistet einen Beitrag zum ganzen Strand.
Für heute sind wir damit fast am Ende. Wie immer gibt es für Sie noch zwei Impulse, ein Zitat und eine Frage zum Nachdenken.
Das Zitat stammt heute von Larry Page:
„Wäre Geld unsere einzige Motivation, hätten wir die Firma vor langer Zeit verkauft und würden jetzt am Strand liegen“.
Und die persönliche Frage für Sie lautet:
Stehen Ihre Begabungen und Neigungen im Einklang miteinander?
In der nächsten Folge sprechen wir darüber, wie wir unser Potenzial entwickeln, nachdem wir es erkannt haben.
Bis dahin verbleibe mit den besten Wünschen, Ihr Thomas Kapp
Dr. Thomas Kapp
Chopinstraße 23
70195 Stuttgart